Für eine Millionen Gefäße brauche ich ca. 300 Jahre

October
20
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2022
2022
Ulvi AYDIN
!AYCON Experten-Talk mit Uli Aigner: „Für eine Millionen Gefäße brauche ich ca. 300 Jahre“ Was hat Töpferei mit Digitalisierung zu tun? Für diesen Experten-Talk durfte ich mit der bildenden Künstlerin, Zeichnerin, Fotografin und Videokünstlerin Uli Aigner sprechen. In ihrem aktuellen Projekt „One-Million“ [da sollte man eine einheitliche Schreibweise wählen, mal ist es mit Bindestrich, mal ohne] möchte Uli eine Millionen Porzellangefäße töpfern – und zu jedem der Gefäße wird ein digitaler Zwilling, ein Datensatz erstellt. Ein Überblick über die ersten knapp 8 Jahre ist in der Ausstellung „Der Porzellan Code - ONE MILLION by Uli Aigner “ im Museum für Vor- und Frühgeschichte auf der Museumsinsel in Berlin zu besichtigen (6. Oktober 2022 bis 28. Mai 2023). Ein Gespräch über Form, Raum, Zeit – und die Digitalisierung von Porzellan. Uli, bitte stell dich kurz vor. Ich bin bildende Künstlerin, 1965 geboren, habe mit 15 Jahren eine Töpfereiausbildung in Wien gemacht und anschließend Produktdesign und Kunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien studiert. In dieser Phase ist mein kunsthandwerkliches Schaffen durch multimediales Arbeiten und die beginnende Digitalisierung überlagert worden. Peter Weibel gründete die erste Meisterklasse für Neue Medien an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Dort habe ich mich 1985 auf den ersten Commodore-64-PC gestürzt – und angefangen, damit zu experimentieren. Ich bin unvoreingenommen und ohne Berührungsängste darangegangen, wie an ein neues Handwerk, das es sofort zu erlernen galt. Diese Zeit des technologischen Umbruchs, der auch ein gesellschaftlicher war, hat mich geprägt. Inwiefern? Zum Beispiel habe ich in meiner Diplomarbeit 1989 ein erstes drei Meter hohes monumentales Gefäß aus meterlangen Tonwürsten aufgebaut – und diesem Gefäß eine 3-D-Animation gegenübergestellt. Und das in einer Zeit, in der es noch nicht wirklich 3-D-Animationen gab. Dafür habe ich mir die Programmiersprache Unix selbst beigebracht und die CAD-Daten nummerisch eingegeben. Das Ergebnis war die Animation einer Schale, die sich zur Vase transformiert und wieder retour. Für meine Werke gab es damals kaum Resonanz oder diskursive Umfelder. Aber wenn ich mich heute so in der NFT und digitalen Kunstszene umschaue, erinnern mich Aspekte an diesen Arbeiten an das, was ich vor 30 Jahren in einer noch so anders gelagerten Gesellschaft experimentell gemacht habe. Erst vor einiger Zeit ist mir mitgeteilt worden, dass ich die dritte Person in Österreich mit einer E-Mail-Adresse war. Auch das war mir nicht bewusst. Wie ging es in meinem Leben weiter: Nach einem einjährigen Stipendium an der Akademie Schloss Solitude habe ich in Ludwigsburg ein Gaststudium absolviert und dort einen Film produziert. In den 1990er Jahren bin ich durch die Welt gereist und habe Kunstprojekte realisiert und ausgestellt. Und zur Geburt des ersten Kindes bin ich bewusst zur ältesten Kunst der Menschheit zurückgekehrt: dem Zeichnen, dass durch meine veränderten Arbeitsbedingungen als Mutter mir als am einfachsten zu bewerkstelligen erschien. 2000 Umzug nach München, wo ich eine Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste hatte, danach realisierte ich mit 11 StudentInnen und AbsolventInnen der Münchener Akademie die GHOSTAKADEMIE und im Anschluss daran war ich die Leiterin der Lothringer 13 / Städtische Kunsthalle München. 2011 sind wir – mit inzwischen 4 Kindern – nach Berlin gezogen. Wie kamst du auf die Idee „One Million“? Das war in Berlin. Ich hatte entschieden: Ich möchte mich in einer radikalen Form um meine eigene künstlerische Arbeit kümmern, weil ich den Eindruck hatte, dass ich damit insgesamt am wirksamsten sein kann. Ich betrachtete den Anachronismus unserer Gesellschaft: Wir leben in der digitalisierten Welt mit einem unvorstellbar umfassenden Wissen, das für Einzelne in seiner Gesamtheit niemals in einem Leben konsumierbar ist. Und von uns, als lebende Organismen mit begrenzter Lebenszeit, ist dieses Wissen völlig entkoppelt. Meine Fragestellung für das Projekt lautete dann ungefähr so: Wie kann ich Zeit als begrenzte Ressource des Individuums sowohl mit Materie als auch mit Digitalität verbinden, dies in einen Sinnzusammenhang bringen? Durch das Drehen von Gefäßen auf einer Scheibe, übe ich eines der ältesten Kunsthandwerke der Menschheit aus. Durch digitale Medien bin ich in der Gegenwart oder gar der nahen Zukunft unterwegs und schaffe neue Räume für meine Kunst. Ich wählte 1 Million Gefäße, um dem Projekt einen großen virtuellen Raum und alle Zeit der Welt zu geben. Die Objekte sollen eine Funktion erfüllen. Es soll hauptsächlich Essgeschirr werden, keine Kunstkeramik – wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Form ist immer auch Information – und Information hat immer mit Kommunikation zu tun. Es geht bei dem Kunstprojekt auch nicht darum, was ich schön finde, das ist irrelevant. Vielmehr geht es um existenzielle Objekte, die ihre Form durch die Gespräche mit den Menschen oder Institutionen erhalten, für die ich sie herstelle. Porzellan ist für mich ein politisches Material, ein Speichermedium, es gibt Auskunft darüber, wie wir leben. Und das seit Tausenden Jahren. Es ist für mich also wesentlich, dass die ONE MILLION Gefäße jemandem gehören. Diese Person kann mir sagen, wie ein Gefäß aussehen und welche Funktion es haben soll – und dann erschaffe ich es. Mich interessiert, was anderen Menschen gefällt, weil es mich interessiert, wie der Begriff der Schönheit bei anderen zustande gekommen ist. Ich gehe in alle Milieus, ich mag die individuellen Persönlichkeitskonstruktionen der Menschen. In den Formen der Gefäße steckt also auch deren Persönlichkeit. Und so baue ich eine Beziehung zwischen den verschiedensten Personen und meinen Porzellan-Objekten auf. Das nimmt Raum und Zeit in Anspruch: Wie lange wirst du für eine Millionen getöpferte Werke benötigen? Und: Wie viel Raum werden deine Werke einnehmen bzw. nehmen sie bereits ein? Für die eine Millionen Töpfereien würde ich ca. 300 Jahre brauchen. Ich habe 2014 angefangen und bin mit dem heutigen Tag bei gut 7.100 Gefäßen. Der Raum ist die Welt. Zirka 800 Gefäße sind in meinem Archiv und alle anderen sind bei ihren Besitzer*innen. Wir haben eine digitale Weltkarte angelegt, auf der Betrachtende nachvollziehen können, wo sich welches Gefäß befindet. All deine Werke sind genau in der Reihenfolge nummeriert, in der sie entstehen. Weißt du schon, welche Form die Nummer 1.000.000 haben wird? Nein, weil ich dann höchstwahrscheinlich nicht mehr lebe. Die Nummerierung dient aber vor allem der digitalen Interaktion der Rezipienten mit dem Kunstprojekt. Stell dir vor, du besitzt Nummer 4.623. Oftmals schauen Menschen dann auf der digitalen Weltkarte nach, wo die Vornummer oder die nachfolgende Nummer ihres Gefäßes sich befinden. Viele staunen dann, wenn sie sehen, dass eine ähnliche Schale in Tokio oder ein ähnlicher Becher in Santiago de Chile sind. Und anhand dieser Objekte nehmen sich Leute gegenseitig auf eine ungewöhnliche Art wahr. Das ist interessant! Es geht aber noch weiter: Wir arbeiten gerade an einer interaktiven Website, einer Art wachsendem Adventskalender, dessen Türchen sämtliche existierenden Gefäße zeigen, und zu deren Datensätzen mit diversesten Objektinformationen zum jeweiligen digitalen Zwilling führen[der Satz ist mir nicht so richtig verständlich]. Zurzeit versuche ich ein Forschungsprojekt zu formulieren: zusammen mit einem Team möchte ich eine Künstliche Intelligenz, eine KI, entwickeln, die mithilfe von Deep Learning, sprachbasiert einen Apparatus [?] informiert, der erlernen wird, auf einer Scheibe 3-D-Hohlkörper aus Porzellan zu drehen. Wahnsinn! Die KI könnte das One-Million-Projekt also abschließen? Ja, das ist mein Plan. Vor allem entsteht aber ein Kreislauf: Ich erschaffe einen physischen Körper, ein Gefäß. Dazu kreiere ich die digitalen Datensätze, sodass eine KI in Zukunft in der Lage ist, aus den Daten und durch Kommunikation wieder einen physischen Körper entstehen zu lassen. Materie wird zu Form, Form wird zu Information, Information zu Kommunikation – und Kommunikation wieder zu materialisierter Form. Eine in sich geschlossene ästhetische Form, wenn man will, eine Skulptur ist im Entstehen, lokalisierbar in einem bestimmten Raum in einer bestimmten Zeit, in der Unendlichkeit des Universums. Kann man das gesamte Projekt irgendwo betrachten? Ja. Zum Beispiel auf unserer Website mit der Online-Weltkarte: www.eine-million.com/de/map/. Aber auch in Berlin: Am 5. Oktober eröffnet meine erste Übersichtsausstellung im Neuen Museum auf der Museumsinsel. In den Räumen des Museums für Vor-und Frühgeschichte werden Werke aus dem One-Million-Projekt im Kontext der Archäologie gezeigt, zwei meiner monumentalen Porzellangefäße sind zu sehen, ein Stop-Motion-Film mit den ersten 7000 Gefäßen von ONE MILLION ist zu sehen und codierte Porzellane. Die Ausstellung läuft bis Ende Mai 2023, Vorträge zur Ausstellung und Konzerte in der Ausstellung finden als Begleitprogramm statt. (Link zum Begleitprogramm) In George Kublers Buch „The Shape of Time” schreibt er, dass jedes vom Menschen erschaffenen Objekt seine Notwendigkeit in der Zeit hat. Sind deine Formen im One-Million-Projekt nicht zeitlos? Zeitlosigkeit existiert nicht. Es gibt immer einen Grund, warum etwas existiert. Ich kann dir auf fünf Jahre genau sagen, welcher Epoche dein Hemd, dieses Gebäude oder jene Form entlehnt ist, nicht nur wegen der Materialien oder der Verarbeitungsart. Zeitlosigkeit liegt auch im Auge des Betrachters: Vielleicht findest du ein Bauhausgefäß zeitlos, ich aber eine barocke Vase, deren Form bereits im 15. Jahrhundert in China entstand – und die du wiederum als postmodern wahrnimmst. Du sagst, dein Lebensende stelle den behaupteten Endpunkt des Projekts dar. Was möchtest du mit dieser Aussage an die Rezipienten deiner Kunst vermitteln? Wir alle können froh sein, dass wir am Leben sind, weil es irgendwann vorbei sein wird. One Million macht auf unsere begrenzte Lebenszeit aufmerksam. Ist man sich seiner Endlichkeit bewusst, intensiviert das die eigene Gegenwart extrem. Zeit wird zu einem Ding, sie endet, so wie eine Veranstaltung endet. Zeit ist ein Kontingent. Man hat seine eigene Lebenszeit, die man mit den anderen, ebenfalls zur gleichen Zeit lebenden Menschen teilt. Mit den chronologisch nummerierten Porzellanen lege ich eine Spur durch die Gegenwart, ein globales, immer dichter werdendes Muster aus realen und virtuellen Verbindungspunkten ist im Entstehen. ONE MILLION ist mein Welt-Service.
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!AYCON Experten-Talk mit Uli Aigner:

„Für eine Millionen Gefäße brauche ich ca. 300 Jahre“

Was hat Töpferei mit Digitalisierung zu tun? Für diesen Experten-Talk durfte ich mit der bildenden Künstlerin, Zeichnerin, Fotografin und Videokünstlerin Uli Aigner sprechen. In ihrem aktuellen Projekt „One-Million“ möchte Uli eine Millionen Porzellangefäße töpfern – und zu jedem der Gefäße wird ein digitaler Zwilling, ein Datensatz erstellt.

Ein Überblick über die ersten knapp 8 Jahre ist in der Ausstellung „Der Porzellan Code - ONE MILLION by Uli Aigner “ im Museum für Vor- und Frühgeschichte auf der Museumsinsel in Berlin zu besichtigen (6. Oktober 2022 bis 28. Mai 2023). Ein Gespräch über Form, Raum, Zeit – und die Digitalisierung von Porzellan.

Uli, bitte stell dich kurz vor.

Ich bin bildende Künstlerin, 1965 geboren, habe mit 15 Jahren eine Töpfereiausbildung in Wien gemacht und anschließend Produktdesign und Kunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien studiert.

In dieser Phase ist mein kunsthandwerkliches Schaffen durch multimediales Arbeiten und die beginnende Digitalisierung überlagert worden. Peter Weibel gründete die erste Meisterklasse für Neue Medien an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Dort habe ich mich 1985 auf den ersten Commodore-64-PC gestürzt – und angefangen, damit zu experimentieren.

Ich bin unvoreingenommen und ohne Berührungsängste darangegangen, wie an ein neues Handwerk, das es sofort zu erlernen galt. Diese Zeit des technologischen Umbruchs, der auch ein gesellschaftlicher war, hat mich geprägt.

www.eine-million.com/de/

Inwiefern?

Zum Beispiel habe ich in meiner Diplomarbeit 1989 ein erstes drei Meter hohes monumentales Gefäß aus meterlangen Tonwürsten aufgebaut – und diesem Gefäß eine 3-D-Animation gegenübergestellt. Und das in einer Zeit, in der es noch nicht wirklich 3-D-Animationen gab.

Dafür habe ich mir die Programmiersprache Unix selbst beigebracht und die CAD-Daten nummerisch eingegeben. Das Ergebnis war die Animation einer Schale, die sich zur Vase transformiert und wieder retour. Für meine Werke gab es damals kaum Resonanz oder diskursive Umfelder.

Aber wenn ich mich heute so in der NFT und digitalen Kunstszene umschaue, erinnern mich Aspekte an diesen Arbeiten an das, was ich vor 30 Jahren in einer noch so anders gelagerten Gesellschaft experimentell gemacht habe.

Erst vor einiger Zeit ist mir mitgeteilt worden, dass ich die dritte Person in Österreich mit einer E-Mail-Adresse war. Auch das war mir nicht bewusst.

Wie ging es in meinem Leben weiter: Nach einem einjährigen Stipendium an der Akademie Schloss Solitude habe ich in Ludwigsburg ein Gaststudium absolviert und dort einen Film produziert. In den 1990er Jahren bin ich durch die Welt gereist und habe Kunstprojekte realisiert und ausgestellt. Und zur Geburt des ersten Kindes bin ich bewusst zur ältesten Kunst der Menschheit zurückgekehrt: dem Zeichnen, dass durch meine veränderten Arbeitsbedingungen als Mutter mir als am einfachsten zu bewerkstelligen erschien.

2000 Umzug nach München, wo ich eine Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste hatte, danach realisierte ich mit 11 StudentInnen und AbsolventInnen der Münchener Akademie die GHOSTAKADEMIE und im Anschluss daran war ich die Leiterin der Lothringer 13 / Städtische Kunsthalle München. 2011 sind wir – mit inzwischen 4 Kindern – nach Berlin gezogen.

Wie kamst du auf die Idee „One Million“?

Das war in Berlin. Ich hatte entschieden: Ich möchte mich in einer radikalen Form um meine eigene künstlerische Arbeit kümmern, weil ich den Eindruck hatte, dass ich damit insgesamt am wirksamsten sein kann.

Ich betrachtete den Anachronismus unserer Gesellschaft: Wir leben in der digitalisierten Welt mit einem unvorstellbar umfassenden Wissen, das für Einzelne in seiner Gesamtheit niemals in einem Leben konsumierbar ist.

Und von uns, als lebende Organismen mit begrenzter Lebenszeit, ist dieses Wissen völlig entkoppelt. Meine Fragestellung für das Projekt lautete dann ungefähr so: Wie kann ich Zeit als begrenzte Ressource des Individuums sowohl mit Materie als auch mit Digitalität verbinden, dies in einen Sinnzusammenhang bringen?

Durch das Drehen von Gefäßen auf einer Scheibe, übe ich eines der ältesten Kunsthandwerke der Menschheit aus.

Durch digitale Medien bin ich in der Gegenwart oder gar der nahen Zukunft unterwegs und schaffe neue Räume für meine Kunst. Ich wählte 1 Million Gefäße, um dem Projekt einen großen virtuellen Raum und alle Zeit der Welt zu geben.

Die Objekte sollen eine Funktion erfüllen. Es soll hauptsächlich Essgeschirr werden, keine Kunstkeramik – wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Form ist immer auch Information – und Information hat immer mit Kommunikation zu tun.

Es geht bei dem Kunstprojekt auch nicht darum, was ich schön finde, das ist irrelevant. Vielmehr geht es um existenzielle Objekte, die ihre Form durch die Gespräche mit den Menschen oder Institutionen erhalten, für die ich sie herstelle.

Porzellan ist für mich ein politisches Material, ein Speichermedium, es gibt Auskunft darüber, wie wir leben. Und das seit Tausenden Jahren.

Es ist für mich also wesentlich, dass die ONE MILLION Gefäße jemandem gehören. Diese Person kann mir sagen, wie ein Gefäß aussehen und welche Funktion es haben soll – und dann erschaffe ich es. Mich interessiert, was anderen Menschen gefällt, weil es mich interessiert, wie der Begriff der Schönheit bei anderen zustande gekommen ist. Ich gehe in alle Milieus, ich mag die individuellen Persönlichkeitskonstruktionen der Menschen.

In den Formen der Gefäße steckt also auch deren Persönlichkeit. Und so baue ich eine Beziehung zwischen den verschiedensten Personen und meinen Porzellan-Objekten auf.

Das nimmt Raum und Zeit in Anspruch: Wie lange wirst du für eine Millionen getöpferte Werke benötigen? Und: Wie viel Raum werden deine Werke einnehmen bzw. nehmen sie bereits ein?

Für die eine Millionen Töpfereien würde ich ca. 300 Jahre brauchen. Ich habe 2014 angefangen und bin mit dem heutigen Tag bei gut 7.100 Gefäßen. Der Raum ist die Welt. Zirka 800 Gefäße sind in meinem Archiv und alle anderen sind bei ihren Besitzer*innen. Wir haben eine digitale Weltkarte angelegt, auf der Betrachtende nachvollziehen können, wo sich welches Gefäß befindet.

All deine Werke sind genau in der Reihenfolge nummeriert, in der sie entstehen. Weißt du schon, welche Form die Nummer 1.000.000 haben wird?

Nein, weil ich dann höchstwahrscheinlich nicht mehr lebe. Die Nummerierung dient aber vor allem der digitalen Interaktion der Rezipienten mit dem Kunstprojekt.

Stell dir vor, du besitzt Nummer 4.623. Oftmals schauen Menschen dann auf der digitalen Weltkarte nach, wo die Vornummer oder die nachfolgende Nummer ihres Gefäßes sich befinden. Viele staunen dann, wenn sie sehen, dass eine ähnliche Schale in Tokio oder ein ähnlicher Becher in Santiago de Chile sind.

Und anhand dieser Objekte nehmen sich Leute gegenseitig auf eine ungewöhnliche Art wahr.

www.einemillionporzellan.com/shop/

Das ist interessant!

Es geht aber noch weiter: Wir arbeiten gerade an einer interaktiven Website, einer Art wachsendem Adventskalender, dessen Türchen sämtliche existierenden Gefäße zeigen, und zu deren Datensätzen mit diversesten Objektinformationen zum jeweiligen digitalen Zwilling führen.

Zurzeit versuche ich ein Forschungsprojekt zu formulieren: zusammen mit einem Team möchte ich eine Künstliche Intelligenz, eine KI, entwickeln, die mithilfe von Deep Learning, sprachbasiert einen Apparatus informiert, der erlernen wird, auf einer Scheibe 3-D-Hohlkörper aus Porzellan zu drehen.

Wahnsinn! Die KI könnte das One-Million-Projekt also abschließen?

Ja, das ist mein Plan. Vor allem entsteht aber ein Kreislauf: Ich erschaffe einen physischen Körper, ein Gefäß. Dazu kreiere ich die digitalen Datensätze, sodass eine KI in Zukunft in der Lage ist, aus den Daten und durch Kommunikation wieder einen physischen Körper entstehen zu lassen.

Materie wird zu Form, Form wird zu Information, Information zu Kommunikation – und Kommunikation wieder zu materialisierter Form.

Eine in sich geschlossene ästhetische Form, wenn man will, eine Skulptur ist im Entstehen, lokalisierbar in einem bestimmten Raum in einer bestimmten Zeit, in der Unendlichkeit des Universums.

Kann man das gesamte Projekt irgendwo betrachten?

Ja. Zum Beispiel auf unserer Website mit der Online-Weltkarte: www.eine-million.com/de/map/.

Aber auch in Berlin: Am 5. Oktober eröffnet meine erste Übersichtsausstellung im Neuen Museum auf der Museumsinsel. In den Räumen des Museums für Vor-und Frühgeschichte werden Werke aus dem One-Million-Projekt im Kontext der Archäologie gezeigt, zwei meiner monumentalen Porzellangefäße sind zu sehen, ein Stop-Motion-Film mit den ersten 7000 Gefäßen von ONE MILLION ist zu sehen und codierte Porzellane.

Die Ausstellung läuft bis Ende Mai 2023, Vorträge zur Ausstellung und Konzerte in der Ausstellung finden als Begleitprogramm statt.

In George Kublers Buch „The Shape of Time” schreibt er, dass jedes vom Menschen erschaffenen Objekt seine Notwendigkeit in der Zeit hat. Sind deine Formen im One-Million-Projekt nicht zeitlos?

Zeitlosigkeit existiert nicht. Es gibt immer einen Grund, warum etwas existiert.

Ich kann dir auf fünf Jahre genau sagen, welcher Epoche dein Hemd, dieses Gebäude oder jene Form entlehnt ist, nicht nur wegen der Materialien oder der Verarbeitungsart. Zeitlosigkeit liegt auch im Auge des Betrachters: Vielleicht findest du ein Bauhausgefäß zeitlos, ich aber eine barocke Vase, deren Form bereits im 15. Jahrhundert in China entstand – und die du wiederum als postmodern wahrnimmst.

Du sagst, dein Lebensende stelle den behaupteten Endpunkt des Projekts dar. Was möchtest du mit dieser Aussage an die Rezipienten deiner Kunst vermitteln?

Wir alle können froh sein, dass wir am Leben sind, weil es irgendwann vorbei sein wird. One Million macht auf unsere begrenzte Lebenszeit aufmerksam. Ist man sich seiner Endlichkeit bewusst, intensiviert das die eigene Gegenwart extrem.

Zeit wird zu einem Ding, sie endet, so wie eine Veranstaltung endet. Zeit ist ein Kontingent. Man hat seine eigene Lebenszeit, die man mit den anderen, ebenfalls zur gleichen Zeit lebenden Menschen teilt.  

Mit den chronologisch nummerierten Porzellanen lege ich eine Spur durch die Gegenwart, ein globales, immer dichter werdendes Muster aus realen und virtuellen Verbindungspunkten ist im Entstehen.

ONE MILLION ist mein Welt-Service.

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